Auch außerhalb der Klinik relevant
Medizinische Ernährung im häuslichen Umfeld: DGEM aktualisiert Leitlinie

Berlin, 15. Mai 2024 – Herzhaft in einen frischen Apfel beißen, ein Käsebrot essen oder auch nur einen Löffel Joghurt hinunterschlucken – für manche chronisch kranke Menschen sind diese Selbstverständlichkeiten nicht möglich. Wenn Erkrankungen das Kauen, Schlucken oder Verdauen von Speisen auf normalem Wege verhindern, muss – dauerhaft oder vorübergehend – auf Möglichkeiten der medizinischen Ernährung zurückgegriffen werden. Immer häufiger geschieht dies außerhalb der Klinik im privaten oder pflegerischen Umfeld. Handreichungen dazu, wann eine solche Ernährung angezeigt ist, wie sie ausgestaltet sein sollte und was es dabei zu beachten gilt, gibt die S3-Leitlinie zur heimenteralen und heimparenteralen Ernährung. Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e. V. (DGEM) wurde sie jetzt aktualisiert.

Mit der grundlegenden Überarbeitung der Leitlinie versuche man, der zunehmenden Bedeutung gerecht zu werden, die der medizinischen Ernährung im ambulanten Bereich zukomme, so Professor Dr. med. Stephan Bischoff von der Universität Hohenheim in Stuttgart, der die Leitlinie für die DGEM koordiniert hat. Sowohl der demographische Wandel als auch die verbesserten Überlebenschancen von Menschen mit schweren und chronischen Erkrankungen erhöhten den Bedarf für diese wichtige und oft lebensrettende Therapie. Hinzu komme die zunehmende Ambulantisierung mit dem Trend zu immer kürzeren stationären Liegezeiten.

Grundsätzlich wird zwischen zwei Formen der medizinischen Ernährung im häuslichen Umfeld unterschieden: Der heimenteralen (HEE) und der heimparenteralen Ernährung (HPE). „Während bei der HEE nur der obere Verdauungstrakt ganz oder teilweise umgangen wird, werden die Nährstoffe bei der HPE direkt ins Blut geleitet“, erklärt Bischoff. Eine HEE kommt am häufigsten bei Patientinnen und Patienten zum Einsatz, die unter neurologischen Erkrankungen mit Schluckstörungen leiden, aber auch bei Betroffenen mit Kopf- und Halskrebs, Magen-Darm-Krebs und anderen Magen-Darm-Erkrankungen, Zerebralparese oder bestimmten Stoffwechselerkrankungen. Die Nahrungslösung wird dabei in den Magen oder in den Dünndarm eingeleitet und kann zumindest die dahinter liegenden Abschnitte des Verdauungssystems noch durchlaufen. Bei der HPE dagegen wird ein intravenöser Zugang gelegt, somit umgehen die Nährstoffe den gesamten Verdauungstrakt. „Die Hauptindikationen für die HPE sind das Kurzdarmsyndrom und das chronische Darmversagen, zum Beispiel aufgrund einer Krebserkrankung oder aufgrund einer gutartigen Darmerkrankung“, sagt Bischoff. Beide Ernährungsformen könnten sowohl dauerhaft als auch kurzfristig zur Überbrückung angewendet werden.

In der Regel wird eine enterale oder parenterale medizinische Ernährung bereits im Krankenhaus begonnen. Wenn sie nach der Entlassung fortgeführt werden soll, muss der betreuende Arzt – meist der Hausarzt – die Notwendigkeit erneut bestätigen. „Hier besteht oft eine große Verunsicherung, nicht nur bei den Betroffenen und Angehörigen, sondern auch bei den ambulant betreuenden Ärztinnen und Ärzten“, so Bischoff. Ziel der aktualisierten Leitlinie sei es, zur Aufklärung beizutragen und evidenzbasierte Lösungen anbieten. Das sei auch im Hinblick auf rechtliche Auseinandersetzungen wichtig – nicht zuletzt gegenüber den Krankenkassen, die sich mitunter weigern, die Kosten zu übernehmen.

Hier schafft die Leitlinie Klarheit. Eine HEE oder HPE ist demnach immer dann indiziert, wenn Patienten ihren Nährstoffbedarf nicht auf normalem Wege decken können. Das muss nicht nur Personen betreffen, die bereits mangelernährt sind. Auch bei Personen, deren bislang guter Ernährungszustand ohne medizinische Ernährung gefährdet wäre, kann eine medizinische Ernährung angeraten sein. Entscheidend ist dabei das so genannte Ernährungsrisiko: Eine Verschlechterung des Ernährungszustands droht immer dann, wenn Patienten eine Woche lang nicht essen können oder wenn die tägliche Energieaufnahme ein bis zwei Wochen lang unter 60 Prozent des geschätzten Bedarfs liegt. Dann kann eine zusätzliche oder ausschließliche medizinische Ernährung die Genesungs- oder Überlebenschancen deutlich verbessern. „Lange Zeit wurde unterschätzt, welch gravierende Folgen ein schlechter Ernährungszustand haben kann“, sagt Bischoff. Heute wisse man, dass ein Mangel an Energie und Nährstoffen den Verlauf vieler Erkrankungen negativ beeinflussen und Heilungsprozesse verzögern könne. Dem wirke die medizinische Ernährung entgegen.

Im Idealfall ist eine HEE oder HPE nur vorübergehend notwendig und kann in dem Maße reduziert werden, in dem der Patient oder die Patientin wieder über den Mund essen kann. Bei schwerwiegenden chronischen Erkrankungen wie dem Kurzdarmsyndrom oder einem Darmversagen kann die medizinische Ernährung aber auch dauerhaft notwendig sein. „Die Voraussetzungen dafür, eine medizinische Ernährung zu beginnen oder weiterzuführen, sind dabei zu Hause die gleichen wie in der Klinik“, sagt Bischoff. So sollten HEE und HPE nur nach umfassender Aufklärung und mit dem Einverständnis der Betroffenen oder der Angehörigen erfolgen. Außerdem sollten sie nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn Lebensqualität und Ernährungszustand anders nicht zu erhalten sind, und wenn überhaupt eine Verbesserung oder eine Erhaltung des Ausgangszustands zu erwarten sind. Das ist spätestens dann nicht mehr der Fall, wenn die Lebenserwartung aufgrund der Ausgangserkrankung bereits auf wenige Wochen gesunken ist. „Wenn nur die Sterbephase verlängert würde, sollten HEE und HPE grundsätzlich unterbleiben“, so Bischoff. 

Die vollständige Leitlinie finden Interessierte unter: 07a_Leitlinie_DGEM_Online-PDF_watermarked.pdf