Jeder vierte stationäre Patient zeigt Zeichen einer Mangelernährung
Ernährungsmediziner und Ernährungswissenschaftler diskutieren Maßnahmen zur gesunden Ernährung im Krankenhaus
Kassel, Juni 2018 – Wer an Deutschland denkt, denkt eher an Übergewicht als an Mangelernährung. Dennoch ist auch letztere ein großes Problem mit vielen Folgeerkrankungen: Mehr als 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind betroffen. Als besonders gefährdet gelten chronisch Kranke, Tumorpatienten und ältere Menschen. Immer häufiger sind aber auch Kinder betroffen, gerade wenn sie aus sozial schwachen Familien kommen. Dabei geht es nicht immer nur um die Essensmenge – auch eine einseitige Ernährung kann zu Mangelerscheinungen führen. Welche erheblichen Folgen eine Mangelernährung haben kann und wie sie sich verhindern lässt, diskutieren Experten auf der Pressekonferenz anlässlich des Ernährungskongresses 2018, der vom 21. bis 23. Juni 2018 in Kassel stattfindet.
„Mehr als jeder vierte Patient, der in eine Klinik eingewiesen wird, zeigt Zeichen einer Mangelernährung“, umreißt Professor Dr. med. Christian Löser das Ausmaß des Problems. Löser ist Chefarzt der Medizinischen Klinik der DRK-Kliniken Nordhessen in Kassel und Kongresspräsident der DGEM. Er beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit Mangelerscheinungen durch Ernährung. Energie- und Nährstoffmangel beeinflussen Heilungsprozesse: In der Folge liegen Patienten länger im Krankenhaus, haben eine schlechtere Lebensqualität und ein höheres Sterberisiko, wie Studien überzeugend belegen. „Wir dürfen Nahrung daher nicht mehr nur als Mittel zum Stillen eines Grundbedürfnisses ansehen, sondern als hochwirksamen Teil einer medizinischen Therapie“, sagt Ingrid Acker, VDOE-Kongresspräsidentin und stellvertretende Vorstandsvorsitzende des BerufsVerbands Oecotrophologie e.V. (VDOE). „Ernährung ist Therapie und Prävention“ heißt daher auch das Motto des diesjährigen Kongresses.
Wie ernährungsmedizinische Erkenntnisse im Klinikalltag umgesetzt werden können, zeigt unter anderem das so genannte „Kasseler Modell“, das unter Lösers Federführung entwickelt wurde und mittlerweile international anerkannt ist. Zentrale Elemente sind unter anderem ein Screening auf Mangelernährung, das alle Patienten routinemäßig bei Aufnahme in die Klinik durchlaufen, etablierte Standards zur effektiven ernährungstherapeutischen Behandlung, bei Bedarf eine individualisierte, professionelle Ernährungsberatung und ein breites Speisenangebot mit speziellen hochkalorischen Menülinien, die den Patienten je nach Ernährungsstatus und individuellen Bedürfnissen angeboten werden. Unter- oder mangelernährte Patienten bekommen speziell nährstoffangereicherte, energiedichte Gerichte und können zudem aus einer breiten Palette von Zwischenmahlzeiten, wie zum Beispiel frisch hergestellten Shakes oder Fingerfood auswählen. „Unser Ziel ist es, den Mangel an Nährstoffen auszugleichen, die tägliche Energiezufuhr zu erhöhen, um den Ernährungszustand zu stabilisieren und so die Genesung zu fördern und weitere Komplikationen zu vermeiden“, sagt Löser.
Nicht nur das zunehmende Übergewicht, sondern auch die Mangelernährung, ist ein hochrelevantes Problem in den wohlhabenden Ländern der Europäischen Union. Darauf hat bereits 2003 der Europarat in seiner wegweisenden Resolution eindrucksvoll hingewiesen und auf die damit verbundenen medizinischen, sozialen und gesundheitsökonomischen Folgen und Kosten verwiesen. Die EU hat vor diesem Hintergrund ein großes Aktionsprogramm namens „Stop Malnutrition“ eingeleitet, das jedoch im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten in Deutschland nur zögerlich realisiert wird. „Im Gegensatz zum Übergewicht kann man frühzeitig diagnostizierte Mangelernährung mit einfachen, etablierten ernährungstherapeutischen Maßnahmen effektiv und nachhaltig behandeln“, betont Ingrid Acker. Ernährungsspezialisten fordern daher, dass die vorliegenden modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse über Mangelernährung nachhaltig in der klinischen und ambulanten Betreuung sowie in der Pflege umgesetzt werden. Verankert werden müssen die Erkenntnisse auch in der Ausbildung und den Anforderungen und Strukturen von Krankenhäusern und Betreuungseinrichtungen. „Davon profitiert zu allererst natürlich der Patient, das Modell ist aber auch unter wirtschaftlichen Aspekten ein Gewinn für die Klinik und das Gesundheitssystem“, sind sich die Tagungspräsidenten Löser und Acker einig.
Quellen:
Statistisches Bundesamt (2013): Körpermaße nach Altersgruppe und Geschlecht. Mikrozensus 2013: https://www.desta-tis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Ge...