Ernährungswende: Lebensmittel für Menschen statt Futter für Fleischerzeugung
Berlin, 8. September 2022 - Unter dem Motto 'Zukunft Pflanzen, Nahrung Sichern' drängen Fachleute aus Gesellschaft, Gesundheit und Wissenschaft auf Maßnahmen, die kurzfristig den Zugang zu Nahrung sichern und sprechen sich für eine Umorientierung hin zu mehr pflanzlicher Ernährung in Europa aus. Sie warnen vor einer sich zuspitzenden globalen Ernährungskrise, fatalen Umweltauswirkungen und wachsender Fehlernährung angesichts des hohen Fleisch- und Milchkonsums.
Durch die Klimakrise, den russischen Angriffskrieg und wirtschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie steigt die Zahl der Hungernden weltweit aktuell massiv an. Selbst im reichen Deutschland werden steigende Lebensmittelpreise zum Problem.
Die Spitzenvertreter*innen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP), der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin, sowie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und der Beiratsvorsitzende von Misereor drängen auf Maßnahmen, die kurzfristig die Not lindern, Getreidemärkte stabilisieren und Verbraucher*innen entlasten. Sie empfehlen zudem gemeinsam eine Umorientierung hin zu mehr pflanzlicher Ernährung und eine Reduktion der Tierbestände. Nur so können mehr Menschen mit gesundem und überwiegend pflanzlichem Essen versorgt, der landwirtschaftliche Flächenverbrauch reduziert und eine Zunahme von Klimarisiken wie Extremwetter und Missernten begrenzt werden. Die Expert*innen sehen in der Agrar- und Ernährungswende eine große Chance für das gemeinsame Ziel: Ernährungssicherheit und gesunde Menschen auf einem gesunden Planeten.
Dr. Martin Frick, Direktor des UN-Welternährungsprogramms für Deutschland, Österreich und Liechtenstein, warnt: „Die Zahl der akut Hungernden hat sich in den letzten drei Jahren fast verdreifacht und steht bei 345 Millionen. Wir benötigen fundamentale Änderungen in unseren Ernährungssystemen, um langfristig Hunger zu bekämpfen und Resilienz aufzubauen. Die aktuelle Krise zeigt, dass dringend strukturelle und langfristige Investitionen nötig sind, die armen und krisengeplagten Ländern helfen, eine kleinbäuerliche, diversifizierte, nachhaltige und unabhängige Landwirtschaft aufzubauen.“
Dr. Felix Prinz zu Löwenstein, Agrarexperte und Vorsitzender des Beirats von Misereor, ergänzt: „Getreidepreise steigen vor allem wegen kriegs- und klimabedingter Angebots-Engpässe. Sie können kurzfristig gesenkt werden, wenn in Europa die Schweinemast und damit die hohe Nachfrage nach Futtermitteln schnell und effektiv unter Entschädigung der betroffenen Betriebe temporär gedrosselt wird. Außerdem sollte jetzt kein Getreide mehr als Biosprit im Tank landen. Zeitgleich muss die Regierung den gesetzlichen Rahmen für eine nachhaltige Transformation des Ernährungssystems schaffen.”
Global leiden aktuell 345 Millionen Menschen an akutem Hunger, knapp dreimal mehr als vor der Corona-Pandemie. Angesichts der Dürre der letzten Monate, Brände und anderen Klimaschäden, sind weitere Ernteausfälle in diesem Herbst in vielen Teilen der Welt zu erwarten. Trotzdem wird mehr als die Hälfte des in Deutschland geernteten Getreides verfüttert und auf gut 6,5 Prozent der Ackerfläche wachsen Pflanzen für Biokraftstoffe. Die Produktion dieser Flächen muss jetzt als Lebensmittel für Menschen genutzt werden.
Professor Dr. Hermann Lotze-Campen, Agrarökonom vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, stellt fest: „Die Bäuerinnen und Bauern haben für die Ernährung der Welt unglaublich viel geleistet. Das verdient Respekt. Jetzt aber sehen wir als Folge der globalen Erwärmung weltweit immer bedrohlichere Klimarisiken, etwa die Dürren und Sturzfluten in diesem Sommer. Die Anpassung an Extreme und die Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen muss dringend vorangebracht werden, um auch in Zukunft die Welternährung zu sichern und den Artenverlust zu stoppen. Ein Absenken der Tierhaltung reduziert den Flächenanspruch, schont wertvolle Ökosysteme und reduziert Emissionen.“
Laut dem Statistischen Bundesamt liegen die Lebensmittelpreise situationsbedingt aktuell knapp 15% über den Preisen im Vorjahresmonat. Studien zeigen, dass Menschen in Notlagen öfter zu nährstoffarmen, sättigenden Lebensmitteln greifen, wie z.B. fettreichem Fleisch. Das wiederum erhöht die Risiken der Fehlernährung insbesondere bei ärmeren Haushalten.
Professor Dr. Dr. Anja Bosy-Westphal, Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin, fordert „Ein geringer Verzehr an tierischen und hochverarbeiteten Lebensmitteln ist nachhaltiger und gesünder. Um unser Ernährungsverhalten zu ändern, müssen wir die Verhältnisse ändern. Eine nachhaltige, mehr pflanzlich basierte Ernährung muss die attraktivste, günstigste und einfachste Alternative werden. Damit alle Zugang haben, muss die Politik den Rahmen setzen, auch mit Blick auf wahre Preise, Teilhabe, verbindliche Kennzeichnung und die Umgestaltung der Ernährungswelten.“
Der Bundesregierung liegen eine Vielzahl an Gutachten, Empfehlungen und Forderungen zu diesem Themenfeld vor, nicht zuletzt auch von den eigenen wissenschaftlichen Beiräten und Fachkommissionen. Jüngst veröffentlichten zudem Wissenschaftler*innen einen Policy Brief für das Erzielen von Ernährungssicherheit trotz multipler Krisen.
Die angekündigte Ernährungsstrategie kann helfen, die nötigen Stellschrauben und Maßnahmen zu strukturieren. Für eine schnelle Umsetzung braucht es jedoch primär konkrete Vorgaben und Investitionen:
- eine Priorisierung des Pflanzenbaus für den menschlichen Verzehr statt für die Verfütterung an Tiere oder Erzeugung von Energie;
- für den Umbau der Landwirtschaft, hin zu einer Fokussierung auf pflanzliche Proteinquellen, Obst und Gemüse und einer Tierzahlreduktion;
- Lenkungsabgaben in Verbindung mit Entlastungspaketen, damit die Nahrungsmittelpreise die wahren Kosten widerspiegeln, ärmere Haushalte aber nicht zusätzlich belastet werden.
Weitere Informationen:
Fesenfeld et al. (2022), Policy Brief, https://doi.org/10.5281/zenodo.7038960